Von der Anstellung in die Selbstständigkeit: Das ist, wie Ausziehen aus dem Elternhaus in eine Partystadt. Disziplin! schreit das Über-Ich gegen den inneren Schweinehund. Warum das nix bringt und 5 Hacks, wie du lernst, mit dir selbst zu kooperieren.

Es ist 9 Uhr. Ich habe mich gerade aus dem Bett geschleppt und sitze etwas ratlos bei Kaffee und Schokolade auf dem Sofa. Ja richtig, Schokolade zum Frühstück. Das ist auch schon ein unverkennbares Indiz für eine Sache, dir mir langsam Sorgen bereitet: Mit meiner Selbstdisziplin, schwant es mir seit Tagen, ist es nicht weit her.

Ich war nahezu zehn Jahre lang in einem Angestelltenverhältnis. Das ist vergleichbar mit der Kindheit: Es gibt da eine höhere Instanz, die deinen Tag strukturiert, die dir sagt, was du zu tun hast und möglicherweise auch noch wie. In meinem Fall war der berufliche Erziehungsstil ein strukturierender gepaart mit dem sanften Erwartungsdruck in Richtung Eigenständigkeit: Im Journalismus musst du dich einbringen, dich durchsetzen, deine Termine, deine Inhalte selbst steuern.

Das war gut, das war klar, das liebte ich und das hatte bei allem Freiraum immer noch einen Rahmen. Ein an sich klassischer 9.30-to-5.30-Job mit Option auf Abendtermine.

Jetzt sitze ich um mittlerweile 9.30 Uhr auf meinem Sofa in meinem Pyjama und fühle mich ziemlich unklar und verloren –  als wäre ich gerade erstmals aus meinem Elternhaus ausgezogen, um in einer fremden Partystadt zu studieren. Keiner kontrolliert mich, keiner erwartet von mir, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein.  Soll ich etwas schreiben oder lieber eine Folge „How i met your mother“ auf Englisch anschauen? Immerhin wollte ich doch meine Englischkenntnisse auffrischen… Eine Folge dauert ja auch nuuur 25 Minuten..

Ehe ich die Playtaste auf der Fernbedienung drücke, schwant mir: Ich muss jetzt wohl oder übel disziplinarisch erwachsen werden und bin damit wohl nicht allein.  Da draußen sind noch andere. Deren Weg in die Selbstständigkeit mangels Kleingeld directamente auf die Couch führt, auf der sie sich alsbald in der Horizontalen wiederfinden, dahindösend, den Laptop auf dem Schoß, bis es wieder dunkel wird…

Mir fällt ein, was mir ein Bekannter kürzlich erzählt hat. Er ist Country Manager eines internationalen Unternehmens mit Sitz in Wien und arbeitet drei Tage die Woche wegen seiner von Wien allzu entfernten Wohnlage im Home Office. Anfangs, hat er erzählt, ist er ebenso wie ich im Pyjama herumgesessen – bis er sich doch einen Ruck gab und den Rasen mähte. Dann überlistete er sich selbst: Er warf sich pünktlich um halb acht in seinen Anzug (wie in seinem früheren Job) und stand eine Stunde lang im Stau, um im Cafe der nächstgelegenen Kleinstadt zu arbeiten. Inzwischen hat er sich ein eigenes Büro zuhause eingerichtet und schafft sein Tagespensum ganz brav.

Stille statt Witzchen

Ja, die Selbstdisziplinierung ist wohl ein Prozess. Ich wechsle an den Esstisch, breite ein paar Bücher und Magazine hinter dem Laptop aus, damit es mehr nach Büro aussieht. Es ist still. So still. Im Büro hätte ich mit der Kollegin ein paar Witzchen gerissen, zur Morgenmotivation. Ich schalte das Radio ein. Besser. Eine Stunde später klappe ich den Laptop wieder zu. Geschrieben habe ich nichts, dafür aber zu Leads und Online-Marketing recherchiert. Immerhin habe ich nicht die Wohnung geputzt.

Später lese ich: Selbstdisziplin ist out. Ich atme erleichtert auf. Denn allein das Wort löst in meinem Nacken Verspannungen aus. Selbstdisziplin also, lese ich, war gestern. Die Arbeitswelt von Morgen braucht Selbstkooperation. Über den Begriff bin ich bei Valentina Murenys Diplomarbeit an der Uni Wien gestolpert. Sie beschäftigte sich mit der „Konstruktion eines Fragebogens zur Selbstkooperationsanalyse“. Als Selbstkooperation bezeichnet sie den Mittelweg zwischen Selbstdisziplin und Selbstverwirklichung, eine Fähigkeit, die in der neuen Arbeitswelt dringend benötigt wird. Zuviel Selbstdisziplin sei schlecht: Sie entfremdet uns von unseren Bedürfnissen und Zielen, weil wir uns zu stark kontrollieren. Nur mit der Selbstverwirklichung allein bleiben die Dinge, die eben auch getan werden müssen – wie Konzepte zu überarbeiten, Rechnungen zu legen, Marketing – auf der Strecke. Daher ist der Mittelweg der gesündeste. Experten sprechen meist von Selbststeuerung, aber der Begriff der Kooperation drückt meiner Meinung nach aus,  worum es wirklich gehen sollte, nämlich:

Wie kooperativ bist du zu dir selbst?

Bist du dir selbst gegenüber generös und sagst dir, morgen ist auch noch ein Tag? Bist du hedonistisch und machst zuerst die Dinge, die du magst oder gehst überhaupt zuerst mit der Freundin auf einen Kaffee und verlegst die Arbeit auf den Sanktnimmerleinstag? Nur um dann an dir rumzunörgeln und dir zu sagen, du hast es wieder einmal verbockt? Oder bist du allzu hart zu dir, trimmst dich täglich auf Höchstleistung und gönnst dir gar keine Pause? All das wird dazu führen, dass nix weitergeht oder die Luft schneller raus ist als du das Wörtchen Gewerbeberechtigung stammeln kannst.

Kacke diem

Wenn du dein Kollege oder deine Kollegin wärst, würdest du dir das erlauben? Fernsehen, auf der Couch rumliegen und mit deinen plumpen Ausreden die anderen die Arbeit machen lassen, a la „Kacke diem“? Und der einzige, der wirklich konsequent arbeitet, ist dein innerer Schweinehund … Würdest du den anderen permanent runtermachen, ihn anherrschen, er soll sich zusammenreißen, er ist zu nix zu gebrauchen, er wird das sowieso nie schaffen? So unkooperativ wärst du wohl nicht zu anderen Menschen.

Tatsache ist: Zu uns selbst sind wir häufig genau das. Wir sind unkooperativ mit dem Teil in uns, der sich zum Ziel gesetzt hat, etwas Neues zu machen, etwas auf die Beine zu stellen. Wir sind unkooperativ, weil wir Angst haben. Angst zu versagen, Angst erbärmlich zu scheitern. Angst, uns und anderen eingestehen zu müssen, dass wir auf dem falschen Dampfer waren.

Für mich ergeben sich 5 wesentliche Schritte zur Selbstkooperation (vermutlich sind es noch viel mehr), die ich nicht nur dir, wenn du diese Misere kennst, sondern auch mir selbst hinter die Ohren schreiben möchte:

1. Stell dich deiner Angst.

Akzeptiere sie. Angst ist nichts Schlechtes, sie zeigt dir nur, dass du dich auf neues Terrain begibst. Blöd ist, dass sie dich blockiert und dir immer neue Ausreden in den Kopf pflanzt, die dich vom Tun abhalten. Doch was kann dir im schlimmsten Fall passieren? Dein Plan geht nicht auf, na und? Niemand interessiert sich für dein Business, na und? Du wirst so viel gelernt haben, dass du deinen Weg erfahrener und klüger als zuvor weitergehen wirst. (Du wirst dabei halt hoffentlich nicht dein gesamtes Erspartes blindlings in deine Geschäftsidee gesteckt haben). Du wirst Menschen getroffen haben, die dir unschätzbare Bereicherung sind und noch sein werden. Beschäftige dich mit deinem Worst Case Scenario und es verliert seine beängstigende, beschränkende Macht. Vielleicht ist deine Unsicherheit auch groß, weil dein Ziel noch zu diffus ist. Ergründe, was du wirklich willst, welchen Mehrwert du anbieten kannst, wer deine Zielgruppe ist, wie du sie erreichst. Dazu gibt es jede Menge Material im Netz. Je konkreter deine Intention, dein Ziel, dein Umsetzungsplan, desto kleiner wird deine Angst.

2. Nimm dich selbst ernst.

Du hast vor oder bist gerade dabei, dich selbstständig zu machen und du hast deine Gründe. Und deine Bedürfnisse. Sonst würdest du es ja nicht wollen. Nimm das ernst. Rede dir gut zu. Ermutige dich. Sieh dich selbst als Buddy, als best friend. Denn ohne dich wirst du dein Ziel nicht erreichen. Und zeige dir, dass du dein Ziel und dich selbst respektierst, indem du tust, was zu tun ist. Indem du aufstehst, wenn etwas schiefgeht, dazulernst und einfach weitermachst. Ich habe mich in den ersten Wochen nach meiner Entscheidung, einen Blog zu starten, etwas belächelt. Berufswunsch (brotlose) Bloggerin, das klang doch reichlich naiv. Dann habe ich mir selbst gesagt: Wenn du dich selbst, deinen Wunsch nach Selbstständigkeit, deine Ideen nicht ernst nimmst, dann lass es bleiben, denn es wird nicht funktionieren. Am besten noch heute. Fakt ist: Ich kann es nicht bleiben lassen, denn ich will es wirklich.

3. Ergründe deinen Traum.

Was genau ist dein Bedürfnis hinter dem Ziel? Mach dir klar, warum du es überhaupt erreichen willst. Du willst vermutlich unabhängig sein (wobei du das nicht sein wirst, du wirst von deinen Kunden, Klienten abhängig sein), dir deine Zeit frei einteilen, etwas bewirken in deinem Umfeld, vielleicht sogar in der Gesellschaft. Vielleicht willst du Menschen helfen oder einen Ort schaffen, an dem sich alle wohlfühlen? Ergründe deinen Traum, deine Vision. Ich beispielsweise beschäftige mich mit New Work, weil ich glaube, dass Arbeit eine Möglichkeit zum Selbstausdruck ist und dass sich die Haltung zu Arbeit ändern muss. Ich will morgens in der U-Bahn zufriedene Gesichter sehen und nicht lauter Arbeitsmuffel, Jobfrustler und Montagshasser. Ich will dass die Menschen ihr eigenes Potenzial erkennen und auch das ihrer Kollegen und Mitarbeiter. Ein wenig naiv, ein wenig idealistisch, aber ein Traum, der mich motiviert ,-)

4. Strukturiere dein Chaos.

Mache dir eine ordentliche Tagesstruktur, auf der du aufbauen kannst. Sei zu dir so, wie der Chef, den du dir immer gewünscht hast. Es gibt diverse Apps, die dich dabei unterstützen. Ich arbeite mit Todoist.com. Setze dir jeden Vorabend kleine Ziele und To Dos für den nächsten Tag, und am Ende der Woche für die nächste Woche. Visualisiere morgens, am besten noch im Bett, was zu tun ist und wie du es abends erledigt hast. Das funktioniert in Woche eins möglicherweise gar nicht, in Woche zwei kaum, in Woche drei holprig.  Führe dir vor Augen, dass das, was zu tun ist, deinem Ziel und damit dir selbst dient. Und belohne dich für deine Leistung – aber bitte erst im Nachhinein 😉

5. Trainiere deinen Selbstkontrollmuskel: Ganz ohne Selbstkontrolle geht es nicht.

Der US-Forscher Walter Mischel wurde mit seinem Marshmallow-Experiment bekannt. Er stellte Kindern entweder ein Marshmallow sofort oder zwei mit Wartezeit in Aussicht. Die Kinder, die warteten, sich also unter Kontrolle hatten, wurden später erfolgreicher als die, die sofort zugriffen. Mischel sagt, die Selbstkontrolle ist eine Frage der Erziehung, kann aber immer trainiert werden. Er rät zur Wenn-Dann-Regel.  Das Vorhaben: „Ich arbeite heute drei Stunden an meiner Unternehmensgründung“ ist zu unkonkret. Besser: „Wenn es 9 Uhr ist, arbeite ich an meinem Antrag, bis ich ihn beendet habe.“ Erst ein konkreter Auftrag ans Gehirn lässt es handeln.

Ich denke, mit diesen 5 Schritten im Blick  ist sehr viel geschafft. Einfach ist das Ganze natürlich nicht, nur weil es sich so liest. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.  Gib dir dafür Zeit. Es geht jeden Tag ein bisschen besser. Und wenn ich anfangen kann, mit mir selbst zu kooperieren, kannst du es auch.

Nicole Thurn schreibt jeden Monat einen Gastbeitrag für den Blog Aumaier Leadersworld. Sie war zehn Jahre lang Journalistin bei der Tageszeitung Kurier, davon fast sieben Jahre im Bereich Job/Karriere. Mit ihrem neuen Blogzine Newworkstories.com beschreibt sie Trends und Innovationen der neuen Arbeitswelt, holt New-Work-Pioniere, Sinnfinder und Muthaber vor den Vorhang und ist stets auf der Suche nach guten, authentischen Geschichten.